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Kulturelle Aneignung? Absurde Diskussionen?

In den letzten Tagen und Wochen war viel von kultureller Aneignung zu lesen. Insbesondere wurde die Diskussion durch den Konzertabbruch in der Brasserie Lorraine beflügelt. Gemäss der Mitteilung des Berner Eventlokals auf ihrer Facebookseite (https://www.facebook.com/brassbern) fühlten sich einige Konzertbesucher:innen unwohl weil die Band Lauwarm Reggae spielte und Bandmitglieder Dreadlocks trugen. Sie fühlten sich wegen kultureller Aneignung unwohl. Der Konzertabbruch führte zu grossem medialen Interessens in der Schweiz und Deutschland. Die Brasserie Lorraine war wohl überrascht von den grossen emotionalen Reaktionen. Der Konzertabbruch erfolgte sicherlich kommunikativ nicht sehr geschickt und war wohl sogar kontraproduktiv.

 

Gemäss Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Kulturelle_Aneignung) versteht man unter kultureller Aneignung die Übernahme von kulturellen Ausdrucksformen oder Artefakten, Geschichte und Wissenformen von Träger:innen einer anderen Kultur oder Identität. Im engeren Sinn werde als "kulturelle Aneignung" angesehen, wenn Träger:innen einer "dominanteren Kultur" Kulturelemente einer "Minderheitskultur" übernehmen und sie ohne Genehmigung, Anerkennung und Entschädigung in einen anderen Kontext stellten. Kulturelle Aneignung müsse gemäss der Definition von "kulturellem Austausch" abgegrenzt werden: Bei kultureller Aneignung würden die übernommenen Bestandteile kultureller Identität zur Ware gemacht und damit trivialisiert. Zudem würden die angeeigneten Kulturelemente oftmals falsch oder verzerrt reproduziert, was zur Förderung von Stereotypen führen könne.

 

Geht man nach dieser Definition, dann wird schnell klar, dass die Band Lauwarm bestimmt keine kulturelle Aneignung betrieben hat. Reda El Arbi meint in seinem Blogbeitrag "Kulturelle Aneignung? Subversive Kultur." (https://fadegrad.co/2022/07/27/kulturelle-aneignung-subversive-kultur/?fbclid=IwAR3fijhS_f20T88DscAusEe9_bjv6ZkppMnLU0dYViBS-OcoQwbxaJb6_iU)

 

"Natürlich haben weisse Völker andere Kulturen über den ganzen Planeten hinweg unterdrückt, verschleppt, versklavt und ausgeblutet. Natürlich ist Rassismus noch immer eines der zentralen Probleme in unseren Gesellschaften. Aber mit dem Ansatz gegen "kulturelle Aneignung" vorzugehen, kämpft man nicht gegen dieses Übel. Der Heiri mit den blonden Dreadlocks und die Fränzi mit den bunt gewebten Klamotten sind nämlich sicher nicht die Rassisten, gegen die man vorgehen müsste. Sie sind vielleicht einfach etwas folklorisch fehlgeleitet und haben einen fragwürdigen Geschmack. Geschenkt. Aber eigentlich sind es wohl genau diese Leute, die sich durch ihr Leben und Handeln im Alltag gegen Rassismus einsetzen, auch und gerade als Nichtbetroffene. Rassismus lässt sich nämlich nicht alleine von PoC überwinden, dazu braucht es alle."

 

Die NZZ titelte gar "Der vorwurf der "kulturellen Aneignung" ist gefährlich - er fördert rassistisches Denken durch die Hintertür". (https://www.nzz.ch/meinung/kulturelle-aneignung-der-vorwurf-torpediert-die-kultur-selbst-ld.1693341?reduced=true). "Kultur lebt von Austausch, Handel und Offenheit. Ausgerechnet "Progressive" brandmarken jedoch zunehmend jede Vermischung in Kunst, Literatur, Sozialwisschenschaften, Film und sogar in der Küche als Diebstahl und Ausbeutung. Antirassismus kippt in Schubladendenken und Ghettoisierung." meint die NZZ in ihrem Artikel.

 

Die Brasserie Lorraine war wohl an besagtem Abend überfordert, sicherlich auch mit dem medialen Sturm nach dem Konzertabbruch. Sie bietet am 19. August um 19 Uhr eine Diskussionsrunde zu dem Thema an. Es ist zu hoffen, dass sich die Verantwortlichen bis dahin besser über das Thema informiert haben.

 

Persönlich hielt ich den Konzertabbruch für einen Fehlentscheid. Es war Wasser auf die Mühlen von rechtskonservativen Kreisen der SVP und JSVP. Es war kontraproduktiv. Diese Kreise warfen die Thematik "kulturelle Aneignung" denn auch in einen Topf mit den ihrer Meinung nach übertriebenen Diskussionen zu Rassismus und dem ihrer Meinung nach betriebenen Genderwahn.

 

Traditionell hat die Schweiz und deren Bevölkerung ein verklärtes Bild ihrer Rolle im Kolonialismus. 2001 behauptete der offizielle schweizerische Menschenrechtsvertreter bei der UNO, die Schweiz habe weder mit der Sklaverei, dem Sklavenhandel noch mit dem Kolonialismus je etwas zu tun gehabt. Eine Behauptung welche später offiziell widerlegt wurde. Die Schweiz hat zwar keinen direkten Kolonialismus betrieben, war aber indirekt sehr stark in diesen wie auch den Sklavenhandel involviert. Der Sozialwissenschafter und Nationalökonom Richard Fritz Behrendt wies in seiner Studie "Die Schweiz und der Imperialismus" schon in den 1930er Jahren nach, dass die Schweiz auch ohne Kolonien von der imperialen Politik europäischer Länder stark profitierte. Die Historiker der ETH Zürich, sprechen von einem sogenannten sekundären Imperialismus.

 

Die Brasserie Lorraine hat meiner Meinung nach, der Thematik einen "Bärendienst" erwiesen. Themen rund um Rassismus wurden nach dem Konzertabbruch ins Lächerliche gezogen. Auch wenn der Konzertabbruch meiner Meinung nach falsch war, die offizielle Schweiz wie auch die Schweizer Bevölkerung hat einen dringenden und grossen Bedarf sich mit dem Thema Kolonialismus und Rassismus auseinanderzusetzen.